Home

Einführung

Jugendarbeit

Ökumene

Mystik

Mission

Gemeinde

e-mail

 

        Herzlich willkommen

auf der Homepage von Ruth und Frank Effertz

5. KRANKHEIT UND GLAUBENSPRÜFUNG (APRIL 1896 BIS SEPTEMBER 1897)

5.1. Glaubensprüfung

Die letzten 18 Monate Thereses (von April 1896 bis September 1897) sind gezeichnet von Tuberkulose und Glaubensprüfung.

In der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag 1896 hustet Therese erstmals Blut. Beim Gedanken, daß ihre Erkrankung vielleicht zum Tod führen werde, ist ihre Seele "von Freude überströmt". Therese ist überzeugt, daß Jesus sie "am Gedächtnistage seines Todes seinen ersten Ruf vernehmen lassen wollte. Es war wie ein süßes und fernes Flüstern, das mir das Nahen des Bräutigams kündete [vgl. Mt 25,6]..." In der folgenden Nacht wiederholt sich das Blutbrechen. "Ich erfreute mich damals eines so lebendigen, so klaren Glaubens, daß der Gedanke an den Himmel mein ganzes Glück ausmachte, ich konnte mir nicht vorstellen, daß es Gottlose gäbe, die keinen Glauben haben. Ich meinte, sie sprächen gegen ihre bessere Erkenntnis, wenn sie die Existenz des Himmel leugneten, des schönen Himmels, wo Gott Selbst ihr ewiger Lohn sein möchte."

Doch Ostersonntag beginnt eine schwere Glaubensprüfung für Therese. Ihre Seele wird von Finsternissen heimgesucht und der Gedanke an den Himmel, bisher so tröstlich für sie, wird ihr zur Qual.

Herbstrith meint, daß Therese nicht plötzlich in ihren letzten Monaten die Anfechtung des Atheismus erlebt habe: schon in der Kindheit habe sie eine Neigung gehabt, Krisensituationen überscharf zu sehen, im Karmel seien diese zunächst punktuellen Finsternisse dann zu einer Dauerkrise geworden, die sie mit Trockenheit, Nacht, Abwesenheit Jesu bezeichnet. In dieser Nacht erfährt Therese zwar die Abwesenheit Gottes, aber seine Existenz stellt sie nicht infrage. "Neben der sieghaften Glaubenszuversicht, die die Nacht der Prüfung durchsteht, finden wir jedoch seit 1891 Aussagen, die verraten, daß Thereses Glaubensprüfung in eine Phase der radikalen Infragestellung der Liebe und Existenz Gottes überging." Die Infragestellung Gottes kann jedoch (zunächst) durch ein Gespräch mit Pater Prou abgewendet werden. Doch "die Not der echten Glaubensanfechtung, der Versuchung zum Atheismus, die 1891 aufbrach, kehrte fünf Jahre später mit elementarer Wucht in den Ostertagen 1896 wieder, dieses Mal, um ungehindert bis zu ihrem Tod im Herbst 1897 anzuhalten." Möglicherweise entwickelt sich die Nacht als Generalisierung eines anfänglichen Zweifels, ob sie persönlich in den Himmel komme.

Therese hat vorher nicht geglaubt, daß es möglich sei, daß jemand im Ernst, wenn er wirklich ehrlich ist, die Existenz Gottes abstreitet. "In den so fröhlichen Tagen der Osterzeit ließ Jesus mich fühlen, daß es tatsächlich Seelen gibt, die den Glauben nicht haben". Therese teilt nun die seelische Finsternis der Sünder, sie teilt die Glaubenszweifel der lauen Christen und die Verzweiflung der Atheisten. Jesus "ließ zu, daß dichteste Finsternisse in meine Seele eindrangen und der mir so süße Gedanke an den Himmel bloß noch ein Anlaß zu Kampf und Qual war". Von Kindheit an hatte sie die Gewißheit, daß es einen Himmel gibt, nicht nur weil andere es sagten, sondern aufgrund einer Sehnsucht im Innersten ihres Herzens.

Doch nun hat sie die Anfechtung, daß mit dem Tod alles aus ist. "Plötzlich verdichten sich die Nebel um mich her, sie dringen in meine Seele ein und umhüllen sie derart, daß ich in ihr das liebliche Bild meiner Heimat nicht mehr wiederzufinden vermag, alles ist entschwunden! Suche ich Ruhe für mein durch all die Finsternis ringsum ermattetes Herz in der Erinnerung an das lichtvolle Land; nach dem ich mich sehne, so verdoppelt sich meine Qual; die Stimme der Sünder annehmend, scheint die Finsternis mich zu verhöhnen und mir zuzurufen: '- Du träumst von Licht, von einer mit lieblichsten Wohlgerüchen durchströmten Heimat, du träumst von dem ewigen Besitz des Schöpfers all dieser Wunderwerke, du wähnst eines Tages den Nebeln, die dich umfangen, zu entrinnen! Nur zu, nur zu, freu dich über den Tod, der dir geben wird nicht, was du erhoffst, sondern eine noch tiefere Nacht, die Nacht des Nichts'". So ist ihr die Hoffnung auf den Himmel durch ihre Glaubensprüfung mehr und mehr verschlossen. "Es ist aus! Die Hoffnung auf den Tod hat sich verbraucht. Ohne Zweifel will der liebe Gott nicht, daß ich auf dieselbe Weise daran denke wie vor meiner Krankheit. Damals war dieser Gedanke für mich notwendig und sehr nützlich, das fühlte ich wohl. Heute ist das Gegenteil der Fall. Der liebe Gott will, daß ich mich überlasse wie ein ganz kleines Kind, das sich keine Gedanken darüber macht, was man mit ihm machen wird."

Die Glaubensprüfung "nimmt [...] alles hinweg, was meinem Verlangen nach dem Himmel noch an natürlicher Befriedigung anhaften könnte".

Therese fühlt sich wie in einem dunklen Tunnel, wie in einer Nebellandschaft. Schließlich sieht sie das Göttliche nicht mehr, es ist durch eine hohe, "zum Himmel ragende Mauer" verdeckt.

Nur andeutungsweise spricht Therese über ihre Glaubensprüfung, weil sie fürchtet Gott zu lästern und ihre Schwestern in deren Glauben zu verunsichern.

Doch "wenn ich auch den Genuß des Glaubens nicht koste, so bemühe ich mich wenigsten, dessen Werke zu tun" Auf Rat von Pater Madeleine schreibt sie das Glaubensbekenntnis mit ihrem Blut nieder und trägt es immer bei sich. "Ich glaube, seit einem Jahr habe ich mehr Glaubensakte erweckt als in meinem ganzen Leben. Bei jeder neuen Gelegenheit zum Kampf, wenn mein Feind mich herausfordert, zeige ich mich tapfer; da ich weiß, daß es feige ist, sich im Duell zu schlagen, kehre ich meinem Gegner den Rücken, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; aber ich eile zu meinem Jesus und sage Ihm, ich sei bereit, bis zum letzten Blutstropfen dafür Zeugnis abzulegen, daß es einen Himmel gibt."

Thereses Gedichte täuschen, auch wenn sie bisweilen verschleierte Hinweise auf die Glaubensprüfung und "so manche Schattenzonen" enthalten: "Wenn Sie nach den Gefühlen urteilen, die ich in den kleinen heuer verfaßten Gedichten ausdrücke, so muß ich Ihnen als eine mit Tröstungen erfüllte Seele vorkommen, für die der Schleier des Glaubens beinahe schon zerriß, und dennoch... es ist kein Schleier mehr für mich, es ist eine bis zum Himmel ragende Mauer, die das gestirnte Firmament verdeckt.. Wenn ich das Glück des Himmels, den ewigen Besitz Gottes besinge, so empfinde ich dabei keinerlei Freude, denn ich besinge einfach, was ICH GLAUBEN WILL."

Therese solidarisiert sich mit den Sündern. Sie will glauben für die, die nicht glauben können und ist "froh, diesen schönen Himmel nicht auf Erden zu genießen, damit [... Gott] ihn den armen Ungläubigen für die Ewigkeit erschließe". Selbst wenn Gott nicht um ihr Leiden wüßte, "so wäre ich auch dann noch glücklich zu leiden, wenn ich dadurch ein einziges Vergehen gegen den Glauben verhindern oder wiedergutmachen könnte..."

Nicht eher, als der Herr es will, will Therese sich von diesem Tisch der Sünder erheben, sondern bittet im Namen ihrer Brüder um Erbarmen und ist bereit durch ihre Liebe zum Herrn die Wirrnis zu reinigen: "Dein Kind aber, o Herr, hat dein göttliches Licht erkannt, es bittet dich um Verzeihung für seine Brüder, es ist bereit das Brot der Schmerzen zu essen, solange du es willst, und es will sich von diesem mit Bitternis beladenen Tisch, an dem die armen Sünder essen, nicht mehr erheben vor dem durch dich bezeichneten Tag ... Darf es daher nicht auch in seinem Namen, im Namen seiner Brüder sprechen: Erbarme dich unser, Herr, denn wir sind arme Sünder! ... Oh! Herr, entlasse uns gerechtfertigt ... Mögen doch alle, die von der Fackel des Glaubens nicht erleuchtet werden, endlich ihren Lichtschein erblicken ... o Jesus, wenn es nötig ist, daß der von ihnen besudelte Tisch durch eine dich liebende Seele gereinigt werde, so will ich gern das Brot der Prüfung einsam essen, bis es dir gefällt, mich in dein lichtes Reich einzuführen."

 Therese hat "eine äußerste Nähe zu allem Verqueren, Gottfernen entwickelt" und hat ein unbändiges Vertrauen darauf, daß nichts auf dieser Welt unerlöst bleiben muß. Inmitten ihrer eigenen Anfechtungen will sie den Himmel bezeugen, um ihn für die Ungläubigen zu erschließen. Insbesondere für den ihrer Familie nahestehenden Herrn Tostain opfert Therese ihre Glaubensprüfung auf. Für Therese hat ihr Leid keinen Wert ansich, sondern sie leidet aus Liebe zu ihrem Gott und in der festen Überzeugung, daß das von ihr angenommene Leid den Sündern und Ungläubigen zugute kommt. "Darin sind sich Jesus und Therese genau gleich: Beide wählen die Kenose, den Abstieg in das Heimat-lose, damit andere das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10)." Therese mahnt, ihr Leiden nicht zu verschweigen: "Ich habe das Glück und die Freude auf der Erde gefunden, aber nur im Leiden, denn ich habe viel gelitten hienieden, das muß man die Seelen wissen lassen ..." 

Das große Thema in den letzten Monaten ihres Lebens ist die Liebe, die absolute Hingabe. Diese Haltung der absoluten Hingabe führt zu einer inneren Freiheit, als deren Anzeichen sich bei Therese ihr Humor und ihr unwandelbarer Frieden, gerade in dieser schwierigen Zeit anführen lassen. In der Glaubensnacht hält Therese mit Radikalität an der Liebe fest. "Radikaler Zweifel an Gott, an der Transzendenz und radikales Festhalten an der Liebe - dieser Widerspruch war Therese aufgegeben."

Ihre Liebe weitet sich aus. Durch ihre Prüfung gewinnt Therese immer mehr Offenheit für Gott und Menschen. Diese Offenheit beginnt sich auch räumlich immer mehr auf die ganze Welt auszudehnen. Innerhalb einer in sich recht verschlossenen Kirche gelingt Therese der Durchbruch hin zur Solidarität mit den Ungläubigen. So findet Therese ihre letzte Heimat in dieser Welt im universellen Heilswillen Gottes, in der Liebe.

Das Erleben von Krankheit und Glaubensprüfung in ihren letzten anderthalb Jahren "ist wohl als die radikale Vertiefung dessen zu verstehen, was Therese zuvor (1895) aufgrund ihrer Leiderfahrungen durchlebt und theoretisch entwickelt hat: ihre Lehre vom Kleinen Weg". Gerade in den Leiden der letzten Phase ihres Lebens erfährt sie die Wahrheit ihrer Lehre: "Ich fühle jetzt klar, daß alles, was ich gesagt und geschrieben habe, in allem wahr ist." Therese hat es nun existentiell erprobt.

Balthasar spricht in bezug auf Therese allerdings nur von einer 'Halbnacht'. Ihr sei zwar "jede gefühlte Gewißheit entzogen, aber durchaus nicht der Glaube selbst" (von Balthasar, Schwestern, 328). Balthasar verweist darauf, daß Therese Glaubensakte erweckt oder daß sie bis zum letzten Blutstropfen Zeugnis ablegen will, sie vermag inmitten der Prüfung eine höhere Freude zu empfinden. "Wie immer man diesen Zustand bezeichnen und einreihen will, es scheint unmöglich, ihn mit der wahren 'Nacht' gleichzusetzen, in welcher für alle diese, wenn auch ungefühlten Freuden, Gewißheiten, Hoffnungen keinerlei Raum mehr bleibt. Was Therese entzogen ist, ist das Gefühl, die Evidenz, die Sieghaftigkeit des Glaubens, keineswegs der Glaube selbst. Und die Stimmen, die ihr zuflüstern, daß vielleicht alles, auch der Himmel und Gott, eine Täuschung war, werden von ihr als Versuchung erkannt und mit aller Kraft bekämpft. Deutlich empfindet sie die Anfechtungen als von außen an sie herantretend." (von Balthasar, Schwestern, 329). Für Balthasar liegt der Grund auf der Hand, denn um Therese in die volle, dunkle Nacht zu versetzen, hätte Gott sie quasi "vergewaltigen müssen" (von Balthasar, Schwestern, 330). Denn "wie soll Therese, die von sich selber weiß, daß sie eine Heilige ist, sich in eine letzte, bedingungslose Gemeinschaft mit den Sündern begeben können? [...] Eine solche Gemeinschaft wäre für sie die Selbstvernichtung ihres Daseins und, in ihren Augen, die Preisgabe ihrer Heiligkeitssendung. Von andern Heiligen, die ihre eigene Heiligkeit nicht reflektierten, konnte Gott es verlangen. Von Therese wollte er es nicht fordern. Er gab ihr, wie zum Ersatz [...], ein stetiges, vielleicht nicht minder schmerzhaftes Immer-neu-eingetaucht-Werden in die Versuchung, angepaßt dem inchoativen Charakter ihrer Existenz".  

5.2. Gebet für einen zweiten Missionar

Therese sehnt sich nach der Mission. Doch ihre sich verschlechternde Krankheit verhindert ihre Versetzung in ein Missionsgebiet.

Stattdessen missioniert Therese betend aus der Ferne: Am 30.5.1896 teilt Mutter Marie de Gonzague Therese einen zweiten Missionar zu, den sie in seinen geistlichen Anliegen unterstützen soll: Pater Roulland von den Missions Etrangères. Dieser wird bald darauf zum Priester geweiht und geht am 2. August nach China. Therese freut sich spontan über die neue Aufgabe, bekommt dann aber Angst:, sie habe ihre armseligen Verdienste ja bereits für einen anderen Missionar aufgeopfert, außerdem gebe es bessere Schwestern. Aber die Priorin weist ihre Einwände ab, man könne mehrere Brüder haben und bestätigt Therese, daß der Gehorsam ihre Verdienste verdoppeln könne. Therese will wie ihre Namenspatronin und Ordensmutter Teresa "Tochter der Kirche" sein, und "da 'der Eifer einer Karmelitin die ganze Welt umfassen soll', hoffe ich sogar, mit der Gnade des Lieben Gottes mehr als Zwei Missionaren nützlich zu sein, und nie könnte ich vergessen, für alle zu beten, und werde dabei auch die einfachen Priester nicht übergehen".

Therese erkennt: "Alles, was mein ist, gehört auch jedem von ihnen [e.A.: den beiden geistlichen Brüdern], ich fühle wohl, daß der liebe Gott zu liebevoll ist, um abteilen zu wollen, Er ist so reich, daß Er ohne Maß alles gibt, worum ich ihn bitte... ".

Auch der persönliche Briefwechsel zwischen Pater Bellière und Therese beginnt erst jetzt unter dem Priorat von Mutter Gonzague. Aber "zweifellos sind Gebet und Opfer das, womit man den Missionaren zu helfen vermag". Damit ein Briefwechsel nützlich/nutzbringend (und nicht schädlich) ist, bedarf es "eines ausdrücklichen Willens der Oberen". "Für mich verhält es sich damit wie mit allem übrigen, ich fühle, meine Briefe müssen, um Gutes zu wirken, im Gehorsam geschrieben sein und so, daß ich beim Verfassen eher Widerwillen als Vergnügen empfinde."

Als 'Apostel der Apostel' will Therese für die Missionare beten. Mit Bildern - wie dem 'kleinen Mose' bzw. der 'Null' - veranschaulicht Therese ihr Verhältnis zu den Missionaren:

Während der Missionar wie Josua in der Ebene kämpft, ist Therese sein "kleiner Mose", der unablässig sein Herz zum Himmel erhebt, den Sieg zu erflehen. Dabei ist es Jesus selbst, der die Arme des Mose stützt.

Sie sieht sich als Mitarbeiterin der Missionare. Während sie allein nur wenig zum Heil der Seelen vollbringen könne, könne sie an der Seite eines Missionars sehr nützlich sein; wie die an sich wertlose Null, wenn sie sich hinter eine Eins stellt, mächtig wird.

Therese möchte keine Freude, wenn ihr Bruder leidet, ja sie möchte sogar, daß ihr Bruder immer den Trost und sie die Prüfung erhält, "denn meine einzigen Waffen sind Liebe und Leiden, Ihr Schwert aber ist das Wort [vgl. Eph 6,17] und das apostolische Wirken".

Sie betet nicht nur für die Missionare, sie opfert ihnen auch Handlungen auf: z.B. ihre Medikamenteneinnahme oder ihr Gehen im Garten, als sie eigentlich schon zu krank und schwach dafür ist. Ihr Tun und Erleiden soll den Missionaren zugute kommen. "Alles, was ich für mich von Jesus erbitte, darum bitte ich auch für Sie." Vereint in Jesus werden sie viele Seelen retten können, denn wo zwei gemeinsam etwas erbitten wird es ihnen gewährt werden (vgl. Mt 18,19).

Jesus will die Seele von Abbé Bellière und Therese "vereinigen, um für das Heil der Sünder zu arbeiten, so wie er einst den Ehrw. P. de la Colombière und die Sel. Marguerite Marie vereinte". Als diese dem Herrn nämlich die Ungleichheit zwischen einem so  tugendhaften Priester und sich selbst als armer Sünderin vorhielt, beruhigte er sie, daß die unendlichen Reichtümer seines Herzens alles ergänzten und ausglichen. "Die Worte, die die heilige Liebende seines Herzens aus Demut an ihn richtete, wiederhole ich in aller Wahrheit; so hoffe ich, daß seine unendlichen Reichtümer alles ergänzen, was mir zur Ausführung des Werkes, das Er mir anvertraut hat, fehlt".

Therese ahnt, die Vereinigung mit dem Bruder wird nach ihrem Tod "noch inniger werden. [...] Meine Seele kann mit Ihnen in die fernen Missionsgebiete fliegen".

Zunächst hatte Therese gewünscht, daß Abbé Roulland täglich in der Messe für sie betet: "Mein Gott, entflamme meine Schwester mit deiner Liebe." Im März 1897 äußert sie die Hoffnung, daß er auch nach ihrem Tod für sie bete: "Die heilige Teresa sagte zu ihren Töchtern, wenn sie für sie selbst beten wollten: 'Was macht es mir aus, ob ich bis zum Ende der Welt im Reinigungsort bleibe, wenn ich durch meine Gebete eine einzige Seele rette!' [Weg der Vollkommenheit, Kap.3] Dieses Wort ist mir aus dem Herzen gesprochen. Ich möchte Seelen retten und mich für sie vergessen; auch nach meinem Tod möchte ich Seelen retten, deshalb wäre ich glücklich, wenn Sie statt des kleinen Gebetes, das Sie verrichten und das für immer Wirklichkeit geworden sein wird, sagten: 'Mein Gott, gewähre meiner Schwester, weiterhin andere dich lieben zu lehren.'"

5.3. Kleiner Weg

Therese selbst nennt ihren Weg "kleiner Weg" oder "Weg der Liebe und des Vertrauens". Häufig umschreibt Therese ihren Weg auch mit dem johanneischen 'Bleiben'.

In dreierlei Hinsicht ist dieser Weg 'klein': Erstens verzichtet er auf sämtliche außergewöhnlichen Phänomene und will allen Menschen - also auch und gerade den 'kleinen Seelen' - offenstehen. Desweiteren erfordert er die Haltung des Kleinseins vor Gott, die Haltung des Kindes, das alles vom göttlichen Vater empfängt. Drittens ist es ein kurzer Weg, der schnell ans Ziel führt.  

5.3.1. Gottesliebe

Als Kind lernt Therese über ihre guten Werke und Stoßgebete Buch zu führen, ihre Verdienste zu sammeln. Therese erstrebt mit Eifer die eigene Vollkommenheit, indem sie die Worte ihrer Vorgaben ganz wörtlich zu leben versucht, aber immer wieder erfährt sie ihr Zurückbleiben hinter dem angestrebten Ideal, immer wieder stößt sie an ihre eigenen Grenzen. Diese Grenzen muß sie akzeptieren und sich selbst ertragen.

Es sind immer Erfahrungen der unbedingten Liebe, die Thereses aus ihren ambivalenten Vorgaben erwachsende Lähmung zu lösen imstande sind: So z.B. die Heilung durch das Lächeln der Muttergottes, die Befreiung von Skrupeln durch die Liebe der verstorbenen Geschwister, die Weihnachtsbekehrung durch die Liebe Jesu, der Traum von der heiligen Mutter Anna de Lobera, der ihr die Liebe des Himmels versichert. Schneller als mit Furcht und lähmender Selbstverdächtigung kommt Therese mit der Liebe voran.

Seine Liebe bringt Gott dazu, sich zu entäußern, sich auch und gerade dem Geringsten zuzuwenden, sich zu ihm herabzulassen. Dieses Sich-Niederbeugen Gottes strahlt ganz besonders in Inkarnation und Passion sowie in der Eucharistie auf. Doch die Liebe Gottes wird verkannt und vergessen: "O wie wenig wird der liebe Gott auf Erden geliebt! ... Sogar von den Priestern und Ordensleuten ... Nein, der liebe Gott wird nicht sehr geliebt ..." Therese ist betroffen von diesem "Gott, der um unsere Liebe bettelt". Deshalb verlangt sie danach Gott zu lieben und lieben zu lehren.

Die beste Antwort auf die Liebe Gottes ist, sich dieser Liebe total anzuvertrauen, sich ihr auszuliefern. Dieses Streben Thereses bestimmt ihr ganzes Leben und Sterben. Sie möchte vom Feuer der Liebe verzehrt werden. Alles nimmt Therese an aus Liebe zu Gott. Jesus "bedarf unserer Werke nicht, sondern nur unserer Liebe, denn der gleiche Gott, der erklärt, er brauche es uns nicht zu sagen, wenn er hungere, hat sich nicht gescheut von der Samariterin ein wenig Wasser zu erbetteln".

Nicht moralische oder aszetische Leistungen sind entscheidend, sondern unser vollkommenes, unerschütterliches Vertrauen in Gottes Liebe. "[Jesus] lehrt mich nicht, meine Tugendakte zu zählen. Er  lehrt mich, alles aus Liebe zu tun, Ihm nichts zu verweigern, zufrieden zu sein, wenn Er mir eine Gelegenheit gibt, Ihm meine Liebe zu beweisen." Therese begreift, "daß nur die Liebe uns dem Lieben Gott wohlgefällig zu machen vermag".

Doch um Gott in rechter Weise zu lieben, muß sie sich dessen eigene Liebe ausleihen.

Therese beweist Jesus ihre Liebe mit viel Zärtlichkeit und zarter Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten: so will das Kind ihm Blumen streuen: "Wie aber soll es seine Liebe bezeugen, da sich die Liebe doch durch Werke beweist? Wohlan, das kleine Kind wird Blumen streuen, mit ihrem Duft wird es den königlichen Thron einhüllen, mit seiner silberhellen Stimme wird es das Hohelied der Liebe singen... Ja, mein Viel-Geliebter, auf diese Weise wird sich mein Leben verzehren... Ich habe kein anderes Mittel, dir meine Liebe zu erweisen, als Blumen zu streuen, das heißt, ich will mir kein einziges kleines Opfer entgehen lassen, keinen Blick, kein Wort, will die geringfügisten Handlungen benutzen und sie aus Liebe tun... Aus Liebe will ich leiden und aus Liebe sogar mich freuen, so werde ich Blumen vor deinen Thron streuen; nicht eine will ich antreffen, ohne sie für dich zu entblättern... Blumen streuend werde ich singen (wie könnte man bei einer so fröhlichen Beschäftigung weinen?); singen werde ich, auch wenn ich meine Blumen mitten aus Dornen pflücken muß, und mein Gesang wird um so wohlklingender sein, je länger und spitzer die Dornen sind."

Für Therese wird das Hohelied zu einem "Grundbuch ihrer Spiritualität". Immer wieder sagt sie, dem lieben Gott, daß sie ihn liebt. Und im Augenblick ihres Todes betet sie: "Mein Gott!... Ich liebe Dich!" So wird "das Gebet [...] für Thérèse immer mehr Ausdrucksform ihrer Liebe. Sie lebt im Zustand des Gebetes, weil sie in der Liebe lebt." Denn "alles, was ich tue, jede Bewegung, jeder Blick - seit meiner Weihe als Schlachtopfer der Liebe geschieht alles aus Liebe".

5.3.2. Hingabe

Die Liebe ist "das einzige Gut, das ich begehre. Jesus gefällt es, mir den einzigen Weg zu zeigen, der zu diesem Göttlichen Glutofen führt, dieser Weg ist die Hingabe des kleinen Kindes, das angstlos in den Armen seines Vaters einschläft...".

Therese, als ein Opfer der Barmherzigen Liebe, will sich von der göttlichen Liebe verzehren und verwandeln lassen. Denn Lieben, so schreibt Therese, "heißt ja, alles hergeben / Und dazu noch sich selbst schenken". Dieses Sich-Verschenken veranschaulicht Therese etwa vier Monate vor ihrem Tod in einem Gedicht im Bild der sich aus Liebe zu Jesus völlig entblätternden Rose. Sie will sich selbst entblättern, damit Jesus auf ihren Blütenblättern seinen Weg gehen kann, unter seinen Schritten, ihm seinen Weg versüßend, will sie verborgen sein, um ihm ihre Liebe zu erweisen. "Eine entblätterte Rose schenkt sich, [...] / Um nicht mehr zu sein."  

So wird Therese aus Liebe zur Hingabe gedrängt. Therese will nicht mehr ihrem, sondern nur noch Gottes Willen folgen. So sind ihre letzten Gespräche voll von Zeugnissen, daß sie bereit ist zu leiden, solange Gott es will. Die Übereinstimmung von geschriebenem und gelebten Testament wird hier besonders deutlich.

"Der liebe Gott will, daß ich mich überlasse wie ein ganz kleines Kind, das sich keine Gedanken darüber macht, was man mit ihm machen wird." Kehrseite der kindlichen Hingabe ist eine grenzenlose Zuversicht: So bemerkt von Balthasar: "kaum ein Wort erscheint öfter bei Therese als 'audace': Kühnheit, Wagemut." Denn "Kindsein heißt für Therese [...] die unmittelbare, fraglose Einheit von restloser, vertrauensvoller Bereitschaft und von ebenso fragloser Sicherheit, alle Wünsche anmelden zu dürfen." Diese zwei Strebungen (Hingabe und Kühnheit des Kindes) äußern sich z.B. wenn sie sagt: "Im Himmel wird der liebe Gott in allem meinen Willen tun müssen, weil ich auf Erden nie meinen Willen getan habe." Indem Therese Gott alles hingibt, "erreicht sie alles bei Gott".

5.3.3. Friede

Immer wieder beschreibt Therese, das Gefühl eines tiefen inneren Friedens, der sie beständig - und besonders in Krisensituationen sichtbar - durch ihr Leben begleitet. Dieser Friede erwächst aus ihrer Übereinstimmung mit Gottes Willen. In ihm drücken sich Gelassenheit und Geborgenheit aus, die aus der Hingabe an und dem Vertrauen in Gott kommen. "Bis zum Ende bleibt das Paar Kleinsein, Armseligkeit und Friede zusammen, denn, wie sie selbst sagte, das eine, ist die Frucht des anderen." Das Gefühl des Friedens meint nicht überschäumende Freude, sondern "es ist vielmehr der ruhige und heitere Friede des Schiffers beim Anblick des Leuchtturms, der ihn zum Hafen führen soll..." Doch dieser beständige Frieden auf dem Grund der Seele bedeutet keineswegs, daß in den oberflächlicheren Seelenschichten nicht auch Leiden und Traurigkeit sein können. Gerade in ihren letzten Lebensmonaten strahlt Therese (auch für andere sichtbar) Frieden aus -trotz aller Gebrechlichkeit und Glaubensprüfung. Im Leid gibt der Friede ihr Halt, immer wieder kommt sie in ihren letzten Lebensmonaten auf den Frieden zu sprechen. Aus ihrem Frieden und Gottvertrauen erklärt sich ihre Freude, Heiterkeit. "Ich wäre nicht so heiter, wie ich bin, wenn der Liebe Gott mir nicht zeigt, daß die einzige Freude auf Erden darin besteht, seinen Willen zu erfüllen."

5.3.4. Heiligkeit

Therese ist auf der Suche nach einem Weg, wie sich die eigene Begrenztheit und die Sehnsucht nach Heiligkeit miteinander versöhnen lassen: "Ich habe immer danach verlangt, eine Heilige zu werden; aber ach! wenn ich mich mit den Heiligen verglich, stellte ich stets fest, daß zwischen ihnen und mir derselbe Unterschied besteht wie zwischen einem Berg, dessen Gipfel sich in den Himmel verliert, und dem unscheinbaren Sandkorn, über das die Füße der Leute achtlos hinwegschreiten; statt zu verzagen, sagte ich mir: Der Liebe Gott flößt keine unerfüllbaren Wünsche ein, ich darf also trotz meiner Kleinheit nach der Heiligkeit streben; mich größer machen ist unmöglich; ich muß mich ertragen, wie ich bin, mit all meinen Unvollkommenheiten; aber ich will das Mittel suchen, in den Himmel zu kommen, auf einem kleinen Weg, einem recht geraden, recht kurzen, einem ganz neuen kleinen Weg. Wir leben in einem Jahrhundert der Erfindungen, man nimmt sich jetzt die Mühe nicht mehr, die Stufen einer Treppe emporzusteigen, bei den Reichen ersetzt ein Fahrstuhl die Treppe aufs vorteilhafteste. Auch ich möchte einen Aufzug finden, der mich zu Jesus emporhebt, denn ich bin zu klein, um die beschwerliche Treppe der Vollkommenheit hinaufzusteigen." Therese sucht nun in der Hl. Schrift nach Hinweisen auf diesen Fahrstuhl, der sie zu Gott erhebt: Sie stößt auf Spr 9,4, "Ist jemand GANZ KLEIN, so komme er zu mir", und Jes 66,13.12, "Wie eine Mutter ihr Kind liebkost, so will ich euch trösten; an meiner Brust will ich euch tragen und auf meinen Knien euch wiegen! ". Therese kommt zu dem Ergebnis: "Der Fahrstuhl, der mich zum Himmel emporheben soll, deine Arme sind es, o Jesus! Dazu brauche ich nicht zu wachsen, im Gegenteil, ich muß klein bleiben, ja, mehr und mehr es werden." Der kleine Weg entspricht also einem Aufzugfahren in den Armen Jesu.

Therese hat in ihrem Leben bereits Aufzugerfahrungen gemacht: So erlebt sie Weihnachten 1886 die Befreiung von ihrer übertriebenen Empfindlichkeit als Geschenk Jesu. "In einem Augenblick hatte Jesus vollbracht, was mir in zehnjähriger Anstrengung nicht gelungen war". Die Befreiung ist also nicht ihr, sondern sein Werk. So meint Plattig, daß Therese ihren kleinen Weg nicht durch Überlegung findet, "sondern aus der Erfahrung, daß sie bereits mit diesem 'Aufzug der Gnade' gefahren ist und dadurch erlangte, was sie durch eigene Anstrengung vergeblich erstrebte".

Therese zählt nicht auf ihre eigenen Verdienste, ja sie hat gar keines, sondern hofft den auf der die Heiligkeit selbst ist: "Er allein, der sich mit meinem schwachen Bemühen begnügt, [...] wird mich heilig machen, indem er mich mit seinen unendlichen Verdiensten bedeckt." Heiligkeit ist nicht unsere Leistung, sondern Gnade. So "räumt [Therese] mit allen Vorstellungen einer durch egozentrischen Heroismus erreichbaren Heiligkeit auf."

Der kleine Weg erfordert die Loslösung von persönlichen Wünschen, Leistungen und Erfolgen. So ist Therese bereit "alles Eigene bis in die reine Sichtlosigkeit preiszugeben". Entsprechend lehrt Therese ihre Novizinnen auch, nicht danach zu streben heilig zu werden, sondern Gott Freude zu machen, denn dann steht nicht mehr die eigene heroisch-egozentrische Heiligkeit, sondern die Liebe zu Gott im Vordergrund. Therese erstrebt nur Gottes Freude und dies selbst auf Kosten ihrer eigenen Herrlichkeit. Die großen Heiligen mögen Gott verherrlichen, Therese aber "arbeite[t] ausschließlich für seine Freude, und [...] würde gerne die größten Leiden ertragen, um Ihm auch nur ein einziges Lächeln zu entlocken." Dieses Sehnen Gott zu erfreuen erwächst aus ihrer Liebe zu Gott. Denn Therese liebt Gott so sehr, daß ihr ganzes Glück darin liegt, Gott glücklich zu sehen. Selbst dann würde sie Gott erfreuen wollen, wenn er ihre guten Werke nicht bemerkte.

5.3.5. Schwachheit

Kennzeichnend für Therese ist, "daß sie es auf geniale Weise versteht, aus der Not eine Tugend zu machen". So wird die Erfahrung der eigenen Ohnmacht für Therese zum Weg.  "Statt angesichts ihres eigenen Unvermögens, das Ziel ihres Lebens zu erreichen, zu verzweifeln, dreht Therese die ganze Sache einfach um; [...] das Kleinsein, das die Erlangung der Heiligkeit verhinderte, macht sie zum Ermöglichungsgrund." Entsprechend schreibt sie: "die Vollkommenheit erscheint mir leicht, ich sehe, daß es genügt, sein Nichts zu erkennen und sich wie ein Kind Gott in die Arme zu werfen". Therese entwickelt ein Verständnis von Heiligkeit, bei dem nicht eigene Kräfte und Werke, sondern das Vertrauen auf Gott zählt.

Das Erbarmen Gottes erweist sich ja gerade am Schwachen. Therese kann deshalb auch ihre Fehler und Schwächen positiv sehen. Es kommt allein darauf an, sich der Liebe Gottes zum Kleinen, Armen, Schwachen, Sündigen und Kranken anzuvertrauen. "[Dem Lieben Gott] gefällt zu sehen, daß ich meine Kleinheit und meine Armut liebe, meine blinde Hoffnung auf seine Barmherzigkeit ... Das ist mein einziger Schatz." Therese ist nun sogar froh, wenn sie ihre Unvollkommenheit sieht, denn dies zeigt ihr ihr Angewiesensein auf die Barmherzigkeit Gottes. Nachdem Therese sich über eine Schwester erregt hatte, aber statt der erwarteten Vorwürfe Mitgefühl erfährt, meint sie: "ich bin weit glückIicher, unvollkommen gewesen zu sein, als wenn ich mit Hilfe der Gnade ein Muster an Sanftmut gewesen wäre ... Es hat mir so gut getan zu sehen, daß Jesus immer so gütig und so zart mir gegenüber ist!..."

Therese ist freier von sich selbst und angstfrei gegenüber persönlichen Mißerfolgen und Niederlagen. Sie kann nun menschliche Armseligkeit und Schwachheit bejahen. Rückhaltlos will Therese auf den göttlichen Vater vertrauen, der für die Armen sorgt.

Der kleine Weg führt in die Freiheit, asketisch-geistliche Zwangsysteme werden entmachtet. Therese verwirft die Werkgerechtigkeit: "Auch wenn ich alle Werke des heiligen Paulus vollbracht hätte, würde ich mich immer noch als 'unnützer Knecht' fühlen, aber gerade das macht meine Freude aus, denn wenn ich nichts habe, werde ich alles vom lieben Gott empfangen."

Therese will keine Verdienste für sich selbst anhäufen, sondern alles an die Kirche und die Seelen weitergeben. Sie ist bereit, schließlich mit leeren Händen vor Gott zu stehen. Denn durch den menschlichen Hochmut können sogar die Tugenden zu Lastern des Hochmuts werden.

Therese warnt davor, sich zu sehr auf die eigenen, menschlichen Kräfte zu verlassen. Sie hofft, daß Jesus gerade ihre Schwachheit benützt, um sein Werk zu vollbringen, "denn der Starke Gott [vgl. Jes 9,5] liebt es, seine Macht zu zeigen, indem er sich des Nichts bedient [vgl. 1Kor 1,27-29]".

"Reihen wir uns [...] demütig unter die Unvollkommenen ein, betrachten wir uns als kleine Seelen, die der Liebe Gott jeden Augenblick stützen muß; sobald Er sieht, daß wir von unserem Nichts überzeugt sind, reicht er uns die Hand. Solange wir noch versuchen, etwas Großes zu tun, sei es auch unter dem Vorwand des Eifers, läßt uns der Liebe Gott allein. 'Sage ich aber, es wankt mein Fuß, so stützt mich, Herr, deine Gnade!' (Ps XCIII) [Ps 93/94,18]. Ja, es genügt, sich zu demütigen und seine Unvollkommenheiten gelassen zu ertragen. Das ist wahre Heiligkeit!" Demut ist schließlich die angemessene Haltung gegenüber Gott, denn alles kommt von ihm. Unerbittliche Selbstverleugnung ist gefragt: "Vor allem, seien wir klein, so klein, daß die Welt uns mit Füßen treten kann, ohne daß man uns ansieht, ob wir es spüren und darunter leiden ..." Der letzte Platz ist "das einzige, das nicht geneidet wird". Die Betrachtung der Leiden und Verdemütigungen Jesu, insbesondere in seiner Passion, prägen wesentlich Thereses Verständnis der Armut. "Unser einziges Verlangen ist, unserem Anbetungswürdigen Meister zu gleichen, den die Welt nicht anerkennen wollte, weil Er sich entäußerte und Knechtsgestalt annahm [Phil 2,7]."

5.3.6. Sünde

Auch Thereses Verhältnis zu Sünde, Schuld und Vergebung ist geprägt vom Vertrauen auf Gott und seine grenzenlose Barmherzigkeit. "Ich selber finde, es ist ganz leicht, die Vollkommenheit zu üben, weil ich begriffen habe, daß man nur Jesus bei seinem Herzen zu nehmen braucht ... Betrachte ein kleines Kind, das seine Mutter betrübt hat, weil es zornig oder unfolgsam war. Versteckt es sich trotzig in einem Winkel und schreit vor Angst, gestraft zu werden, so wird ihm seine Mutter den Fehler sicherlich nicht verzeihen. Kommt es aber und streckt ihr lächelnd seine Ärmchen entgegen und sagt: 'Gib mir einen Kuß, ich werde es nicht mehr tun', wird dann die Mutter es nicht zärtlich ans Herz drücken und seine kindlichen Unarten vergessen? ... Freilich weiß sie genau, daß ihr liebes Kleines bei der nächsten Gelegenheit es wieder tun wird, aber das macht nichts, wenn es sie wieder beim Herzen nimmt, wird es nie gestraft werden ...".

Therese identifiziert sie sich gerne mit dem hinten in der Synagoge betenden Zöllner. "Vor allem aber ahme ich das Verhalten Magdalenas nach, ihre erstaunliche oder vielmehr ihre liebende Kühnheit, die das Herz Jesu entzückt, reißt das meinige hin". "Wenn ich Magdalena betrachte, wie sie in Gegenwart der zahlreichen Geladenen vorgeht, um die Füße ihres angebetenen Meisters, den sie zum ersten Mal berührt, mit ihren Tränen zu netzen; ich fühle, daß ihr Herz die Abgründe der Liebe und des Erbarmens des Herzens Jesu begriffen hat und daß dieses Herz der Liebe nicht nur bereit ist, ihr, der Sünderin, zu vergeben, sondern auch ihr die Wohltat seiner göttlichen Nähe zu erweisen, sie zu den höchsten Gipfeln der Kontemplation zu erheben. Ah! mein lieber kleiner Bruder, seit es mir geschenkt wurde, in solcher Weise die Liebe des Herzens zu erfassen, gestehe ich Ihnen, daß er alle Furcht aus meinem Herzen vertrieben hat. Die Erinnerung an meine Fehler demütigt mich, veranlaßt mich, mich nie auf meine eigene Kraft, die nur Schwachheit ist, zu stützen, aber mehr noch spricht dieses Erinnern mir von Barmherzigkeit und Liebe. Wie sollten auch, wenn man seine Fehler mit ganz kindlichem Vertrauen in die verzehrende Glut der Liebe hineinwirft - wie sollten sie nicht unwiderruflich verzehrt werden?" Nicht mehr Furcht und ängstliche Selbstkontrolle, Gott in allem zufriedenzustellen, treibt Therese, sondern die Liebe.  "Mein Weg ist ganz Vertrauen und Liebe, ich verstehe die Seelen nicht, die vor einem so liebevollen Freund Angst haben." Selbst wenn man einen Fehler begeht, vermag doch die göttliche Liebe aus allem ihren Vorteil zu ziehen.

Doch hat Therese jemals ein Verhältnis zur Sünde gefunden? Ihre Fehler "erscheinen [...] bisweilen mikroskopisch und die Sorge um sie nicht recht verständlich [...] Doch geht es Therese dabei wohl weniger um die Einzelsünden als um das Grundgefühl der eigenen Begrenztheit."

Nach Wollbold war ihre Angst vor der Todsünde für Therese ein wesentlicher Antrieb zur Suche nach der Befreiung im kleinen Weg. So betont Therese gegen Ende ihres Lebens, daß ihr Vertrauen in den lieben Gott aus der Grenzenlosigkeit von Gottes Barmherzigkeit herrührt, und nicht etwa daher, daß sie frei von Todsünden ist. "Man könnte glauben, mein so großes Vertrauen in den lieben Gott rührt daher, daß ich nicht gesündigt habe. Machen Sie es klar, Mutter, daß mein Vertrauen genauso groß wäre, wenn ich auch alle nur möglichen Verbrechen begangen hätte. Ich fühle es, diese Masse von Sünden wäre wie ein Wassertropfen, den man auf glühende Kohlen fallen läßt." Dringlich fordert Therese Mutter Agnès auf, diese ihre Botschaft zu verkünden. Auch andere Stellen belegen, wie wichtig ihr gerade diese Botschaft der Unabhängigkeit des Vertrauens von der begangenen Sünde ist.

5.3.7. Verzicht auf außergewöhnliche Phänomene

Therese "lehnt [...] für sich die Mystik als besonderen Weg ab, erst recht die Vorstellung, nach der die Mystik die Vollendung des 'bloßen' Glaubens darstellt." Bewußt will sie auf außergewöhnliche Phänomene verzichten: "Wundert Euch nicht, wenn ich Euch nach meinem Tod nicht erscheine und wenn Ihr nichts Außergewöhnliches wahrnehmt als Zeichen meiner Seligkeit. Wie Ihr wißt besteht mein 'kleiner Weg' gerade darin, daß man nicht begehrt, etwas zu sehen." Entschieden weist Therese die Vorstellungen ihrer Mitschwestern von ihrem schönen Tod zurück: "O nein, das würde nicht zu meinem kleinen Weg passen. Ich sollte ihn verlassen, um zu sterben? Nach der Kommunion aus Liebe sterben, das ist zu schön für mich; das könnten die kleinen Seelen nicht nachmachen." Therese verzichtet darauf, die Heiligen oder Gott schon in diesem Leben zu schauen, sondern konzentriert sich auf die Erfüllung des göttlichen Willens und die Liebe. Statt mystischer Erlebnisse und Erfahrungen von Gottes Gegenwart zieht sie es vor, im Glauben zu leben: "Ich [habe] mehr danach verlangt [...], den lieben Gott und die Heiligen nicht zu schauen und in der Nacht des Glaubens zu bleiben, als andere begehren, zu schauen und zu begreifen."

Auf keinen Fall möchte Therese Gott verfügbar machen und distanziert sich von jeder Wundersucht. Statt in außergewöhnlichen Phänomenen sucht sie die Vollkommenheit im alltäglichen Vollzug des Glaubenslebens. Bereits 1890 hatte Therese geschrieben: "Ich habe kein Verlangen, nach Lourdes zu gehen und Ekstasen zu haben. Ich ziehe (die Eintönigkeit des Opfers) vor!"

5.3.8. Alltäglichkeit der Werke

Therese, "läßt [...] in ihrem Lebensbericht vor allem die alltäglichen Dinge durchscheinen, denn mitten im Lebensalltag gewöhnlicher Menschen erfährt Thérèse Gottes Gegenwart". Sie lehrt, "daß das entscheidende auch im geistlichen Leben diese Kleinigkeiten des Alltags sind".  In den (all-)täglichen Werken soll sich die Treue unserer Liebe erweisen. Für Therese ist entscheidend, jederzeit in jeder Situation Gottes Willen zu tun, seinem Anruf zu folgen; auf die Größe des Werkes (Martyrium versus Lächeln) kommt es dabei nicht an. "Es [sind] die kleinsten, aus Liebe getanen Handlungen [...], die sein [e.A.: Gottes] Herz gewinnen". Auch wenn Therese sich mitunter kleine Opfer entgehen läßt, entmutigt sie das nicht, "ich ertrage es, etwas weniger Frieden zu haben, und trachte danach, ein andermal wachsamer zu sein". 

Therese warnt bezüglich der Mortifikationen mit Bußwerkzeugen: "In diesem Punkt muß man sehr maßvoll sein, denn da mischt sich oft mehr die Natur ein als etwas anderes." Hatte Therese früher, um sich abzutöten, beim Essen an abstoßende Dinge gedacht, so findet sie es später einfacher, was ihr schmeckt, einfach dem lieben Gott anzubieten.

5.3.9. Nächstenliebe

Die Aktualität Thereses zeigt sich u.a. "an der fraglosen Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, wobei die Gottesliebe so radikal gelebt wird, daß die Nächstenliebe keinen Raum mehr zu haben scheint, sich aber bei Therese gerade erst in der Nächstenliebe als christlich echt erweist, womit ein theoretisch unlösbares Problem praktisch gelöst wird." Zu dem Gebot der Liebe in Joh 15,12 erörtert Therese: Ihr selbst sei es aus sich heraus nicht möglich, ihre Schwestern so wie Jesus sie liebt zu lieben, da der Herr aber nichts Unmögliches befiehlt, hat sie die Zuversicht, daß Jesus selbst ihre Schwestern in ihr liebt. "Oh! wie liebe ich es [das neue Gebot], da es mir die Zuversicht schenkt, daß es dein Wille ist, alle in mir zu lieben, die du mir zu lieben befiehlst! ... Ja, ich fühle es, wenn ich Liebe erweise, so handelt einzig Jesus in mir; je mehr ich mit ihm vereint bin, desto inniger liebe ich alle meine Schwestern."

Die Nächstenliebe erweist sich im konkreten Tun, im alltäglichen liebevollen Umgang mit den Menschen, die ihr begegnen. Im Ertragen der Fehler der anderen Schwestern wie in der Freude über ihre Tugendakte äußert sich diese Liebe. Jesu Rede vom Licht, das man nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter stellt, damit es allen im Haus leuchte (Mt 5,15) legt Therese auf die Liebe hin aus, die allen, ohne Ausnahme, leuchten soll. Gerade auch den ihr weniger sympathischen Schwestern begegnet sie darum mit umso mehr Liebe.

Zusammenfassend spricht Plattig bei Therese von "drei Grundpfeiler[n] ihres geistlichen Lebens: Annahme der Kleinheit und Armut und blinde Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit; und das verwirklicht, sich zeigend in den Werken des Alltags".

5.4. Bücher 

5.4.1. Betrachtungsbücher

Wollbold untersucht die Entwicklung in Thereses Leseverhalten. Schon von Kindesbeinen an liest Therese gerne und viel. So ist sie von klein auf vertraut mit der 'Nachfolge Christi', mit 15 Jahren begeistert sie sich für Predigten von Arminjon. Wegen ihrer Schläfrigkeit beim Gebet, versucht Therese sich während der Betrachtungszeit im Kloster durch Lesen wachzuhalten. Während der Betrachtungen lesen viele Karmelitinnen zur Zeit Thereses ein Betrachtungsbuch und wenden das Gelesene auf sich selbst an. "Um so gewaltiger ist der Rückweg Thereses aus einer solchen übertriebenen Bücherfrömmigkeit" einzuschätzen:

Zu Beginn ihrer Klosterzeit liest sie ein Buch von P. Surin. Später, mit 17 Jahren, vertieft sie sich in die Werke des hl. Johannes vom Kreuz, bei dem sie vor allem die Konzentration auf die Liebe anspricht.  

Doch mit der Zeit stellt sich bei Therese auch wachsender Leseverdruß ein. Mehrfach sagt Therese, daß sie die 'Bücher', gemeint sind geistliche Abhandlungen, 'nicht versteht': "Die schönen Bücher, die ich nicht verstehen und noch weniger in die Tat umsetzen kann, überlasse ich den großen Seelen", und Therese freut sich, daß es im Haus Gottes viele Wohnungen gibt und nicht nur solche, deren Wegbeschreibung ihr unverständlich ist.

Was macht die geistlichen Abhandlungen so unverständlich und so ermüdend für Therese?

Mir scheint, Therese versteht nicht, daß man vor Gott Angst macht. Das Ermüdende an den Büchern ist für Therese meiner Meinung nach, daß sie - im Gegensatz zum Evangelium - die Vollkommenheit schwer bzw. unerreichbar erscheinen lassen. Außerdem bauen sie Illusionen auf, während Therese zur Einfachheit und Wahrhaftigkeit des Evangeliums hinstrebt.

Wollbold untersucht die Ursache für Thereses Leseverdruß: Therese sucht Gottunmittelbarkeit im Herzen statt Vermittlung durch Bücher. Der Leseverdruß betrifft entsprechend auch nicht alle Schriften gleichermaßen: Wollbold kommt zu dem Ergebnis, die Schriften in direktive und erfahrungsoffene einzuteilen, darin sieht er den entscheidenden Unterschied für Therese: "In dem Maß, wie eine Schrift direktiv geistliche Haltungen vorgibt, erfährt Therese ihre Ambivalenzen und fühlt sich gelähmt, weil darin ihre persönliche Ich-, Welt- und Gotteserfahrung keine Einheit findet. In dem Maß, wie eine Schrift sie aber zur persönlichen Erfahrung einlädt und Wege dazu aufzeigt, fühlt Therese ihre eigene Sehnsucht nach Gottesliebe entfesselt." An Thereses Verhältnis zu Büchern meint Wollbold den mystagogischen Dreischritt bei Therese, den er als "Identifikation mit den Vorgaben, lähmende Krisenerfahrung und Erneuerung durch Konzentration" kennzeichnet, beispielhaft aufzeigen zu können: So beobachtet Wollbold, daß Thereses Verhältnis zu Lektüren "zwischen identifikatorischem Lesedurst und lähmendem Leseverdruß schwankt und schließlich zu einer Konzentration auf erfahrungsoffene Texte führt". Die Bücher müssen für sie zur Begegnung mit Jesus hinführen. Sie sollen nicht bloß Reglementierungen aufstellen, sondern Zeugnis einer Begegnung mit Jesus sein.

So ist es konsequent, daß sie sich nun immer mehr der Heiligen Schrift zuwendet. "Manchmal, wenn ich gewisse geistliche Abhandlungen lese, in denen die Vollkommenheit durch tausenderlei Erschwerungen hindurch und von einer Menge Illusionen umgeben beschrieben wird, ermüdet mein armer kleiner Geist gar schnell. Ich schließe das gelehrte Buch, das mir Kopfschmerzen macht und das Herz austrocknet und greife zur Heiligen Schrift. Dann erscheint mir alles voll Licht. Ein einziges Wort erschließt meiner Seele unendliche Horizonte, die Vollkommenheit erscheint mir leicht, ich sehe, daß es genügt, sein Nichts zu erkennen und sich wie ein Kind Gott in die Arme zu werfen."

Wollbold meint "hier deutlich den Unterschied zwischen den direktiven Lehrbüchern mit ihren Ambivalenzen und der zur Unendlichkeit Gottes hin entgrenzenden Erfahrung bei der Bibellektüre" zu bemerken. Ab 1892 liest sie fast ausschließlich die Bibel. Schon aus der Entwicklung in der Wahl ihrer Lektüre läßt sich ein geistlicher Fortschritt erkennen.

5.4.2. Bibel

Therese sucht von den vielen Devotionsbüchern ihrer Zeit den Rückweg zur Bibel, insbesondere zu den Evangelien. "Für mich finde ich nichts mehr in den Büchern außer im Evangelium. Dieses Buch genügt mir."

Greift Therese nun, ermüdet von einer geistlichen Abhandlung, zur Heiligen Schrift. Hier findet Therese ihren Weg bestätigt, der "ganz Vertrauen und Liebe" ist.

Im Evangelium lauscht Therese dem Wort Jesu und atmet den Wohlgeruch seines Lebens ein. "Für mich finde ich nichts mehr in den Büchern außer im Evangelium. Dieses Buch genügt mir. Mit Entzücken lausche ich auf jenes Wort Jesu, das mir alles sagt, was ich zu tun habe: 'Lernet von Mir, denn Ich bin sanftmütig und demütig von Herzen'. Dann finde ich den Frieden'". Das Evangelium ist Therese Richtschnur für ihr Leben, an Jesu Spuren erkennt auch sie, wohin sie laufen soll. "Da Jesus wieder in den Himmel aufgestiegen ist, kann ich ihm nur auf den Spuren folgen, die Er hinterlassen hat, aber wie leuchtend sind diese Spuren, wie duftend! Ich brauche die Augen nur auf das Hl. Evangelium zu werfen, sogleich atme ich den Wohlgeruch des Lebens Jesu und weiß, nach welcher Seite ich laufen muß..." Und das heißt für Therese, nicht zum ersten, sondern zum letzten Platz hinzueilen. In der Nachahmung des von den Evangelien berichteten Lebens Jesu findet Therese ihren Weg. Dort findet sie Klarheit, wie man leben und was man tun soll.

Sie begegnet Jesus in der Heiligen Schrift. Bei der Betrachtung des Wortes der Heiligen Schrift erfährt Therese eine "personale, sakramentale Begegnung" mit Jesus, der ja selbst das Wort des Vaters ist. "Therese will keine Exegese bieten, sie meditiert die Schrift und sucht nur das heraus, was sie für den Augenblick braucht." Aus der Heiligen Schrift sucht Therese Bestätigung für ihre eigenen Erfahrungen mit Gott und Antwort auf ihre Fragen. Dabei sucht Therese einerseits Texte zu einem bestimmten Themenkreis, um daraus Klärung und Hilfe zu finden, andererseits schlägt sie auch einfach Bibelstellen auf, und versteht den aufgeschlagenen Vers als eine Antwort Gottes auf ihre Frage. Aufgrund ihrer guten Bibelkenntnis sind ihr auch "oft und oft zur rechten Zeit die entsprechenden Texte als göttlicher 'Kommentar zur Lage' [...] oder als konkreter göttlicher Auftrag [...] einfach in den Sinn gekommen."

Die Bibel ist Hauptquelle von Thereses geistlicher Erfahrung und Lehre.

Therese schätzt (entgegen vieler ihrer Zeitgenossen) sehr das AT und gewinnt viele wichtige Erkenntnisse gerade aus diesem Teil der Hl. Schrift. "Johannes vom Kreuz lehrt Therese, das AT christologisch zu verstehen."

Ihrer Zeit voraus beklagt Therese die Unterschiede in den Übersetzungen der Heiligen Schrift und hätte deshalb gerne selbst Griechisch und Hebräisch gelernt. Über 1000 Bibelzitate finden sich in ihren Schriften, davon mehr als 400 aus dem AT und mehr als 600 aus dem NT. "Am häufigsten zitiert sie Psalmen, prophetische Texte, Sätze aus dem Deuteronomium, dem Buch der Weisheit, dem Hohen Lied. Neben den Synoptikern bevorzugt sie das Johannesevangelium", das insbesondere in ihren letzten Lebenswochen weiten Raum einnimmt.

In der Betrachtung der Schrift gelangt Therese zu Nüchternheit.

Siedl verweist auf die Nähe von Thereses Umgang mit der Bibel zu den entsprechenden Konzilsdokumenten des 2. Vatikanischen Konzils. Hier interessiert insbesondere das letzte Kapitel (über die Heilige Schrift im Leben der Kirche) der dogmatischen Konstitution über die Offenbarung (Dei Verbum). Therese hat "in mancher Hinsicht Haltungen und Methoden vorweggenommen [...], die zu ihrer Zeit gar nicht so 'zeitgemäß' waren, die aber dafür um so mehr dem entsprechen, was an den genannten Stellen [e.A.: der Konzilsdokumente] für unsere Zeit besonders gefordert ist: die Hochschätzung der Schrift, die als Wort Gottes der Eucharistie vergleichbar uns unmittelbaren Kontakt mit Gott verleiht, die uns Wegweiser ist, die uns immer mehr bekannt werden soll, und zwar auch unter Heranziehung der heute verfügbaren wissenschaftlichen Mittel, doch in steter Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes, das uns in diesen Schriften entgegentritt ..." Adelkamp sieht allerdings einen Nachteil darin, "daß die Schrift nicht [Thereses] objektiver Maßstab ist, sondern daß sie nur in ihr die Bestätigung ihrer intuitiv erfahrenen Sendung sucht."

5.5. Natur

Zeugnisse für die Bedeutung der Natur für Thereses Gebet finden sich auch in ihren letzten Lebensmonaten. Vieles, was sie in der Natur sieht, überträgt sie auf  ihre Beziehung zu Gott. So berichtet Mutter Agnès, wie Therese "unter dem Mispelbaum die kleine weiße Henne [erblickte], die all ihre Küchlein unter ihren Flügeln barg. Von einigen sah man nur das Köpfchen. Theresia blieb stehen und betrachtete sie, in tiefes Nachdenken versunken. [...] Ihre Augen waren voller Tränen." Und Therese erklärt später: "Ich habe geweint bei dem Gedanken, daß der liebe Gott diesen Vergleich gewählt hat, damit wir an seine Zärtlichkeit glauben. Genau das hat Er mein ganzes Leben lang für mich getan! Er hat mich ganz und gar unter seinen Flügeln geborgen! [...] mein Herz floß über vor Liebe und Dankbarkeit." In der Natur entdeckt sie Gleichnisse ihres Lebens.

5.6. Berufung gefunden

Während ihrer privaten Exerzitien Anfang September 1896 erhält Therese große Einsichten in ihre Berufung. Wie muß Therese, die mit ihren 23 Jahren an einer todbringenden Krankheit leidet, um ihre Berufung gerungen haben, es sind "Einkehrtage, die vielleicht meine letzten gewesen sind". Die Gnade des Traums von Anna de Lobera "war nur ein Vorspiel zu den größeren" Gnaden, mit denen Jesus sie jetzt überhäuft.

Therese hat "ans Unendliche grenzende[...] Wünsche und Hoffnungen [...] Deine Braut sein, o Jesus, Karmelitin sein, [...] Mutter der Seelen sein, sollte mir genügen... Und doch ist dem nicht so... [...] ich fühle noch andere Berufungen in mir, ich fühle die Berufung zum KRIEGER, zum PRIESTER, zum APOSTEL, zum KIRCHENLEHRER, zum MARTYRER; kurz, ich spüre das Bedürfnis, für dich, Jesus die heroischsten Werke allesamt zu vollbringen." MsB beschreibt die Entgrenzung, Dramatik und Intensität ihrer Wünsche und ihre Suche, bis sie Frieden findet:

Thereses Wünsche sind voller Gegensätze: So sehr sie wünscht, Priester zu sein, so sehr begehrt sie auch die Demut, die Priesterwürde auszuschlagen, "wie sind diese Gegensätze vereinbar? Wie können die Begierden meiner armen kleinen Seele Verwirklichung finden?".

Ihre Sehnsüchte drängen nach räumlicher und zeitlicher Entgrenzung, so möchte sie das Evangelium auf allen Kontinenten zugleich verkünden, Missionar sein vom Anbeginn der Welt bis zum Ende der Zeiten.

Vor allem möchte sie das Martyrium erleiden, ein Traum ihrer Jugend, der im Karmel noch gewachsen ist. "Aber auch da fühle ich wieder, daß mein Traum zur Torheit wird, denn ich könnte mich nicht darauf beschränken, nur eine Art von Marter zu ersehnen... Um mir genugzutun bedürfte ich ihrer aller..." Die Taten aller Heiligen möchte Therese für Jesus vollbracht haben. Therese hat Wünsche, "die größer sind als das Weltall".

Was antwortet Jesus auf ihre "Torheiten"?

"Als beim Gebet meine Begierden mich ein wahres Martyrium erleiden ließen", sucht Therese Antwort in den Paulusbriefen und stößt auf 1Kor 12: Die Kirche ist aus verschiedenen Gliedern zusammengesetzt, das Auge kann nicht zugleich Hand sein, es können nicht alle zugleich Apostel, Propheten, Lehrer usw. sein. Diese Antwort "stillte [...] mein Sehnen nicht und brachte mir keinen Frieden", aber Therese läßt sich nicht entmutigen. Sie sucht weiter und entdeckt ihre Berufung in 1Kor 13: "Der Apostel erklärt, wie die VOLLKOMMENSTEN Gaben nichts sind ohne die LIEBE... Daß die Liebe der VORTREFFLICHE WEG ist, der mit Sicherheit zu Gott führt. Endlich hatte ich Ruhe gefunden... Den mystischen Leib der Kirche betrachtend, hatte ich mich in keinem der vom Hl. Paulus geschilderten Glieder wiedererkannt, oder vielmehr, ich wollte mich in allen wiedererkennen... Die Liebe gab mir den Schlüssel meiner Berufung. Ich begriff, daß wenn die Kirche einen aus verschiedenen Gliedern bestehenden Leib hat, ihr auch das notwendigste, das edelste von allen nicht fehlt; ich begriff, daß die Kirche ein Herz hat, und daß dieses Herz von LIEBE BRENNT. Ich erkannte, daß die Liebe allein die Glieder der Kirche in Tätigkeit setzt, und würde die Liebe erlöschen, so würden die Apostel das Evangelium nicht mehr verkünden, die Martyrer sich weigern, ihr Blut zu vergießen... Ich begriff, daß die LIEBE ALLE BERUFUNGEN IN SICH SCHLIESST, DASS DIE LIEBE ALLES IST; DASS SIE ALLE ZEITEN UND ORTE UMSPANNT... MIT EINEM WORT, DASS SIE EWIG IST!... Da rief ich im Übermaß meiner überschäumenden Freude: O Jesus, meine Liebe... endlich habe ich meine Berufung gefunden, MEINE BERUFUNG IST DIE LIEBE!... Ja, ich habe meinen Platz in der Kirche gefunden, und diesen Platz, mein Gott, den hast du mir geschenkt... im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein... so werde ich alles sein... so wird mein Traum Wirklichkeit werden!!!..."

Hierin drückt sich für von Balthasar "das Geheimnis der Kontemplation als Aktion" aus. Die Liebe ist die Energie, die die Glieder der Kirche bewegt. "Neu an [Thereses] Kontemplation ist im Grunde nicht ihr Wesen, sondern die Einsicht in ihre Wirkung, die durch und durch ekklesiologische und soteriologische Schau, wie sie vielleicht in der Geschichte der Spiritualität noch nie so radikal und so rein hervorgekehrt worden ist." So treibt erst Therese "die letzten Reste neuplatonischer Deutung aus der Kontemplation aus [...] Sie hat, wenn auch nicht dem Wortlaut, so doch der Sache nach, den Begriff der Wirkung durch denjenigen der Fruchtbarkeit ersetzt und dadurch eigentlich erstmals ganz klar werden lassen, daß die Aktion nicht bloß eine Wirkung der überströmenden Kontemplation ist - in dem Sinne, daß der mit Schau und Weisheit bis zum Rand Erfüllte gefahrlos in eine Periode des Handelns nach außen übergehen darf und sogar soll -, sondern daß die Kontemplation selbst und an sich eine bewegende Kraft hat, ja letztlich die oberste Quelle aller Fruchtbarkeit, der erste Hebel aller wirklichen Veränderung ist". Es ergibt sich "ein vollkommener Kommunismus aller Güter, Gnaden und Besitztümer, bei völliger Wahrung der Personen und der einzelnen Sendungen. Theresens besondere Sendung ist aber dabei, das kommunisierende Element darzustellen. Es geht wie ein Blutkreislauf durch alle hindurch, die sie zu Blutsverwandten macht".

Menke verweist auf die Bedeutung des Empfangens und Gebens von Stellvertretung: "Die Einmaligkeit (Identität) des Einzelnen besteht weder in seiner nach außen sichtbaren Funktion noch in einer unsichtbaren Wirklichkeit (Seele), sondern in einem einzigartigen Empfangen und ebenso einzigartigen Geben von Stellvertretung. Was nur wenige Menschen wie z.B. die kleine Therese schriftlich ausgedrückt und festgehalten haben, betrifft dennoch alle, weil grundsätzlich jeder Mensch sein Leben und Sterben überall und zu jedem Zeitpunkt zum Inhalt stellvertretenden Für-Seins machen kann." Ich gewinne "mich (mein Leben) in demselben Maße [...], in dem ich mich (mein Leben) in Christi Stellvertretung inkludieren lasse, in dem ich mein Ich zur Stelle des Anderen (des Du) mache".  Menke sieht in dem Gedanken "der Inklusion des einzelnen Christen und der Kirche insgesamt in Christi Stellvertretung geradezu ein Kriterium jeder genuin christlichen Spiritualität".

Nachdem sie lange bei den einzelnen Charismen gesucht hat, erkennt Therese ihre Berufung, die Liebe, die alle anderen Berufungen in sich einschließt. Sie sinnt nach über das paulinische Kirchenbild eines Leibes mit vielen Gliedern, deren jedes durch sein Tun den ganzen Leib positiv oder negativ beeinflußt, und dringt tief in das Geheimnis des mystischen Leibes Christi ein. So kann Therese darauf vertrauen, daß ihr tägliches, häufig verborgenes Mühen um Liebe positiv und fruchtbar für den ganzen Leib wirkt. "Jede Kleinigkeit ihres Lebens will sie [e.A.: Therese] mit Christus in Gnade für andere 'transformieren' [...]. Therese will eine ganz und gar communiale Existenz ("kat'holisch") sein." Therese hat "vorgelebt, wie jedes Detail des Alltags zum Gebet und als Gebet zur inklusiven Stellvertretung und als inklusive Stellvertretung zu erlösender Gnade werden kann. [...] Die wechselseitige Fürbitte der Communio Sanctorum ist kein entbehrliches Anhängsel der Erlösung, sondern konstitutives Moment der Gnade selbst". 

Therese will aus dem Herzen der Kirche missionieren, denn sie hat "die alles belebende Liebe Jesu als ihren Ort entdeckt, von dem aus sie alles und alle erreichen kann." So ist es die Liebe, die die Missionare wie auch die Bekehrten hervorbringt. 

Die geistliche Handlungsgemeinschaft, als wesentlicher Aspekt von Thereses Missionsfrömmigkeit, findet nach Aussage von Papst Johannes Paul II. einen Niederschlag im Missionsdekret Ad gentes des II. Vatikanischen Konzils. "Eine beispielhafte Antwort auf die universale Berufung zur Verantwortung im Missionswerk hat zu ihrer Zeit die hl. Theresia vom Kinde Jesus gegeben [...]. Das Leben und die Lehre der hl. Theresia unterstreichen die ganz enge Verbindung zwischen Mission und Kontemplation. Es kann in der Tat keine Mission geben ohne ein intensives Gebetsleben und eine tiefe Verbundenheit mit dem Herrn und seinem Opfer am Kreuz." 

"Zu verstehen, daß sich Gott nach all dieser Liebe sehnt, nach der Liebe aller Menschen, die einmal geboren wurden, die jetzt oder später einmal geboren werden, das erst bringt Missionare hervor". Therese wird tief bewegt von Jesu Sehnsucht nach unserer Liebe. Jesu Betteln um Wasser im Gespräch mit der Samariterin deutet Therese als Betteln um die Liebe des Menschen. Auch hier findet sie wieder Jesu Durst nach Liebe. Doch oft begegnen die Menschen Jesus mit soviel Undank und Gleichgültigkeit und so selten mit rückhaltloser Hingabe. Deshalb ist Thereses Ziel, Gott zu lieben und lieben zu lehren. So spricht sie im Weiheakt an die Barmherzige Liebe: "[...] ich verlange danach, dich zu Lieben und dahin zu wirken, daß du Geliebt wirst [...] ich will einzig um deiner Liebe willen arbeiten, in der alleinigen Absicht, dich zu erfreuen, dein Heiligstes Herz zu trösten und Seelen, die dich ewig lieben werden, zu retten." Gutting kommt zu dem Schluß, daß Menschen zu retten Thereses sekundäres Ziel ist, ihr primäres Ziel ist, daß Gott mehr geliebt wird und deshalb will sie Menschen gewinnen.

Ihr Ausgangspunkt ist die Vereinigung mit Jesus: "Das ist mein Gebet, ich bitte Jesus, mich in die Flammen seiner Liebe hineinzuziehen, mich so innig mit Ihm zu vereinen, daß Er in mir lebe und wirke." Angezogen von der Liebe Christi will sie dann alle mit sich ziehen. Thereses Fürbittgebet vereinfacht sich immer mehr, es wird "zum einfachen Sehnsuchtsruf der Braut des Hohenliedes: 'Zieh mich an dich!'" Denn sie erkennt, daß, wenn sie selbst mit Jesus vereint ist, sie als natürliche Folge auch alle, die sie liebt, hinter sich her zu Gott zieht. Therese vergleicht dies mit einem Sturzbach, der auf dem Weg zum Ozean der göttlichen Liebe alles mit sich schwemmt, was ihm begegnet.

Therese verschenkt alle ihre Gebete und Opfer an die Kirche und die Seelen, so daß sie meint, schließlich einmal mit leeren Händen vor Gott zu erscheinen. Als der Tod Thereses "missionarisches Drängen vor einen Abgrund stellt, entdeckt sie, daß mit dem Sterben ihre Sendung erst recht von allen Grenzen des Raumes und der Zeit befreit ist". Sie will vom Himmel herabsteigen und selbst nach dem Tod noch Fürbitten vortragen, Gutes tun, Seelen retten: "Ich fühle, daß ich in die Ruhe eingehen werde ... vor allem aber fühle ich, daß meine Sendung anfangen wird, meine Sendung, den lieben Gott so lieben zu lehren, wie ich Ihn liebe, den Seelen meinen kleinen Weg zu zeigen. Wenn der liebe Gott meine Wünsche erhört, werde ich meinen Himmel bis zum Ende der Welt auf Erden verbringen. Ja, ich möchte meinen Himmel damit verbringen, auf Erden Gutes zu tun. Das ist nicht unmöglich, denn auch die Engel wachen ja sogar mitten in der seligen Gottesschau über uns. Ich kann mir nicht aus dem Genießen ein Fest machen, ich kann nicht ausruhen, solange es noch Seelen zu retten gibt ... Wenn aber der Engel einmal sagen wird: 'Es wird keine Zeit mehr sein!', dann werde ich mich ausruhen, dann werde ich genießen können, weil die Zahl der Auserwählten voll sein wird und alle in die Freude und Ruhe eingegangen sein werden. Mein Herz erschauert bei diesem Gedanken..."

Besonders in ihren letzten Lebensmonaten erlangt Therese tiefe Einblicke in die Communio Sanctorum: Wie eine halberloschene Lampe viele Kerzen anzünden kann, so daß schöne Flammen entstehen, die das ganze Universum in Brand stecken könnten, ohne das die Flammen dafür sich selbst die Ehre geben können, da sie sich doch dem kleinen Funken verdanken, "so ist es auch mit der Gemeinschaft der Heiligen. Oft verdanken wir die Gnaden und Erleuchtungen, die uns zuteil werden, einer verborgenen Seele, denn der liebe Gott will, daß die Heiligen einander die Gnaden durch das Gebet mitteilen, damit sie im Himmel mit einer großen Liebe lieben [...]. Wie oft habe ich gedacht, daß ich vielleicht alle Gnaden, die ich empfangen habe, dem Gebet einer Seele verdanke, die mich vom lieben Gott erbetet hat und die ich erst im Himmel kennenlernen werde. Ja, ein ganz kleiner Funken kann in der ganzen Kiche große Leuchten entstehen lassen, wie die Kirchenväter und die Martyrer, die im Himmel ohne Zweifel hoch über ihm stehen werden; aber wie sollte man vergessen, daß ihre Herrlichkeit von der seinen herrührt?" Durch das Gebet sind wir miteinander verbunden. Gott will unser Fürbittgebet, damit wir Anteil haben am Heil der Seelen. Denn "[Jesus] will, daß das Heil von Seelen von unsern Opfern und unserer Liebe abhängt".

5.7. Unmittelbarkeit des Gebetes

5.7.1. Rosenkranz und formulierte Gebete

Für ihr persönliches Gebet mag Therese das Aufsagen langer Gebete nicht. So hat sie zeitlebens Schwierigkeiten damit, alleine den Rosenkranz zu beten. Dies verwundert sie, denn eigentlich sollte es ihr aufgrund ihrer innigen Liebe zu Maria leicht fallen, zu ihrer Ehre zu beten. Liegt es vielleicht an der Betonung der Leistung des Gebeteverrichtens gegenüber dem Geschenk der unmittelbaren Erfahrung Gottes, das Therese kein warmes Verhältnis zum Rosenkranz entwickelt?

Statt viele Gebete eilig daherzusagen möchte Therese lieber wenige langsam sprechen, um sich mit Gott zu vereinen: "Manchmal, wenn mein Geist sich in so großer Trockenheit befindet, daß es mir unmöglich ist, einen Gedanken zu fassen, der mich dem Lieben Gott vereinte, bete ich sehr langsam ein 'Vater Unser' und darauf den Englischen Gruß; dann entzücken mich diese Gebete, sie nähren meine Seele weit mehr, als wenn ich sie hastig hundertmal hergesagt hätte..."

Therese "sieht [...] im Gebet [...] von jeder Technik, von jeder Regel ab". Ihr "Gebet vereinfacht sich immer mehr". Sie "weiß [...] nun, daß allein die liebende Einheit mit Jesus ein Gebet erfüllt, so daß sie äußere Hilfen wie Betrachtungsbücher und Gebetsformeln immer mehr beiseitelegt." Therese findet es "durchaus nicht nötig, ein schönes, für den entsprechenden Fall formuliertes Gebet aus einem Buch zu lesen, um Erhörung zu finden [...]. Neben dem göttlichen Offizium, das zu beten ich sehr unwürdig bin, habe ich nicht den Mut, mich zum Suchen schöner Gebete in Büchern zu zwingen, das macht mir Kopfweh, es gibt ihrer so viele!... und dann ist ein jedes schöner als das andere... Ich könnte nicht alle beten". Die Masse und die 'schöne' Formulierung der Gebete aus den Büchern scheint für Therese den Kontakt zu Gott eher zu erschweren als zu fördern.

5.7.2. Gebet als einfacher Ausdruck der Liebe

Therese hingegen erstrebt Einfachheit und Unmittelbarkeit: Ich "mache [...] es wie die Kinder, die nicht lesen können, ich sage dem Liebe Gott ganz einfach, was ich ihm sagen will, ohne schöne Phrasen zu machen, und Er versteht mich immer..." Therese findet im Gebet zu großer Direktheit und Spontaneität. Das Beten betrifft sie existentiell, wobei ihre einfache, tiefe Sehnsucht wichtiger scheint als alle Worte: "Für mich ist das Gebet ein Schwung des Herzens, ein einfacher Blick zum Himmel empor, ein Schrei der Dankbarkeit und der Liebe, aus der Mitte der Prüfung wie aus der Mitte der Freude". Thereses Gebet wird ganz zum Ausdruck ihrer Liebe zu Gott. Darauf allein konzentriert sich ihr Beten und alles andere (z.B. Worte) wird demgegenüber unwesentlich und kann entfallen. So berichtet Céline wie sie nachts nach ihrer kranken Schwester schaut und diese mit gefalteten Händen und zum Himmel gerichteten Blick vorfindet: "'Ich kann nicht [schlafen], ich habe zu große Schmerzen, so bete ich ...' - 'Und was sagen Sie Jesus?' - 'Ich sage Ihm nichts, ich liebe Ihn!'"

Entgegen allem Leistungsdenken betont Therese den übernatürlichen, erhabenen Charakter des Gebetes, das in die Weite führt und in die Vereinigung mit Jesus mündet. So ist das Gebet für sie "etwas Großes, Übernatürliches, das mir die Seele ausweitet und mich mit Jesus vereint."

5.8. Sprache der Liebe

5.8.1. Anrede Gottes

Therese gelingt, daß "sie entgegen manchen Versuchungen in Welt und Kirche ihrer Zeit das Du Gottes wiederfindet und anzusprechen wagt". Therese erneuert die Rede von Gott: "als Anrede dessen, der sich in Jesus den Kleinen zuwendet". Therese kann - zumindest auf existentieller Ebene - nur im Blick auf Jesus von Gott sprechen, wodurch sich wohl auch Thereses irritierende Redeweise erklären läßt, die Gott häufig einfach mit Jesus identifiziert. So verwendet Therese häufig in einem Sinnabschnitt 'Jesus' und 'Gott' nebeneinander. Für Therese nimmt Gott in Jesus Gestalt an und zeigt im Menschsein Jesu seine Liebe. Therese schreibt nur von Jesus nicht von Christus oder von Jesus Christus. "Die Menschheit Jesu nimmt bei ihr einen großen Raum ein und prägt ihre Christusgestalt." In diesem Zusammenhang läßt sich auch Thereses Weg zurück zum Evangelium sehen. Sie überdenkt Jesu Leben, wie es die Evagelien berichten, und will ihr eigenes Leben nach diesem Vorbild ausrichten. Nüchtern betrachtet sie Jesus als: "den Arbeitenden, Gehorsamen, den Wanderprediger, den der Liebe Seines Geschöpfes Bedürftigen, den im Dienste der Menschen Müden und Erschöpften, den geduldigen Lehrer seiner Jünger, den Sehnsüchtigen, sich vor dem Tod Ängstigenden, den Gekreuzigten, den sie am liebsten als Toten betrachtete". Therese entdeckt auch weibliche, mütterliche Züge an Jesus: "Für mich ist Dein Herz mehr als mütterlich. / In jedem Augenblick folgst Du mir, behütest Du mich; / Wenn ich Dich rufe, ach, nie zögerst Du."

Jesus ist für Therese Bruder und Freund und in enger Vertrautheit redet sie ihn mit Du an: "Das drückt viel besser meine Liebe aus, und ich halte es nie anders, wenn ich allein mit Ihm spreche; aber in meinen Gedichten und Gebetn, die von anderen gelesen werden sollen, wage ich es nicht." Gerne nennt sie ihren Bräutigam: "mein Viel-Geliebter". In Thereses Schreibweise kommt auch die gebotene Ehrfurcht zum Ausdruck, wenn sie Pronomina, die sich auf Jesus beziehen, groß schreibt, "aus Achtung vor Seiner anbetungswürdigen Person".

Für Therese ist Gott "in erster Linie [...] der Vater Jesu Christi." Jesus hat Gott als Vater offenbart, zu dem wir in einer Beziehung der Liebe, des Vertrauens und der Hingabe stehen. Im kleinen Weg findet Therese zu einer Verlebendigung der neutestamentlichen Aussage von der Vaterschaft Gottes, zu dem man 'Abba' sagen kann. Indem sie sich der Vaterschaft Gottes so sehr bewußt ist, kann sie selbst vertrauendes Kind sein. "Gott ist nicht mehr der Inbegriff der Ordnung, sondern der Lebendige, gleichzeitig auch der Unbekannte, der nicht zu verrechnen ist." Therese entdeckt mütterliche, sorgende, zärtliche Züge in ihrem Gottesbild. Entsprechend bevorzugt sie Worte der Schrift, wo Gott sich als geheimnisvolle, lebenschenkende, mütterliche Zuwendung, als Hirte, als Mutter ausweist. "So atmen ihre Schriften im letzten immer das lebendige Du Gottes, das sie in Jesus entdeckte."

5.8.2. Bildreiche Sprache

Thereses Geist ist "ein Springquell der treffendsten, originellsten und unvergeßlichsten Bilder": So vergleicht sie in der Führung der Seelen Mutter Marie de Gonzague mit dem großen, nützlicheren, die Grundtöne auftragenden Pinsel, während sie selbst ein kleiner Pinsel für unbedeutende Feinheiten ist. Beide Pinsel sind nur Werkzeuge in der sie führenden Künstlerhand des Allerhöchsten, dem allein sich die Schönheit des (in der Seele) entstandenen Bildes verdankt. Während die vollkommenen Seelen kleinen süßen Erbsen mit dünner Schale entsprechen, obwohl sie doch Sonne und Kälte ausgesetzt sind, haben die unvollkommenen Seelen wie grobe Bohnen eine ganz gefütterte, sie gut schützende Schale von Gott erhalten und müssen auch von uns mit viel Feingefühl und Zuvorkommenheit behandelt werden.

Thereses Bilder entstammen zum Teil auch der technischen Welt: Wie ein Fahrstuhl das mühevolle Treppensteigen erübrigt, so die Arme Jesu das Verdienstesammeln auf der Treppe der Vollkommenheit. Den Klang ihres Hustens vergleicht Therese mit einer in den himmlischen Bahnhof einfahrenden Lokomotive. Das Gebet ist für sie der Hebel, der, Gott als Stützpunkt, die Welt aus den Angeln hebt.

Als Zeichen der Opferbereitschaft werden dem Kreuz im Innenhof des Karmels von den Novizinnen abgefallene Rosenblätter zugeworfen. Therese vertieft dieses Bild, sie betrachtet die entblätterte Rose: das Zerpflücktwerden der Rose, deren Blütenblätter ausgerissen, hingestreut und nicht beachtet werden. Therese blickt auf die Selbsthingabe in Schmerzen, den Verlust der Schönheit und die Unbeachtetheit.

Ihre Glaubensprüfung beschreibt Therese als einen "dunklen Tunnel", eine nebelüberlagerte Landschaft und schließlich sogar als "bis zum Himmel ragende Mauer". Der kleine Jesus hat Therese wie ein Stück Stoff in den Stickrahmen des Leidens gespannt, um sie zu besticken und dann herauszunehmen, um sein Kunstwerk im Himmel zu zeigen, aber noch läßt er Therese warten. Therese, die den Tod erwartet, fühlt sich wie ein auf dem Bahnsteig stehengelassenes Kind, daß einen Zug nach dem anderen verpaßt, weil seine Eltern nicht kommen, es in den Zug hineinzusetzen. Sie wartet auf den großen Gott, der als "Dieb" kommen wird, sie zu stehlen und in den Himmel zu holen.

Wollbold weist darauf hin, daß Thereses Sprachwelt erst am Anfang ihrer Entwicklung gestanden habe, die sich an der zunehmend biblischen Sprache und dem zunehmendem Mut zu eigenen Bildern gegen Ende von Thereses Leben aufzeigen läßt. Auch mitten in einer konventionellen Ausdrucksweise kann Therese Ureigenstes ausdrücken. "Therese hat eine große Kraft, in die verbrauchtesten Bilder einzudringen und sie weiterzubilden, so daß neuartige Aussagen möglich werden." Besonders überzeugend erscheint Therese aber dort, wo sie eigene Bilder kreiert.

5.8.3. 'Körperlichkeit' des Gebets

Thereses Beziehung zu Gott nimmt auch einen körperlichen Ausdruck an: So entblättert sie Rosen für den Herrn, küßt ihn auf die Wangen, macht der Hl. Familie Obstangebote, fächelt den Heiligen Kühlung zu u.v.a.m.:

So wird berichtet wie Therese andachtsvoll über dem Kruzifix eine Rose entblättert: "sie nahm jedes einzelne Blatt und liebkoste damit die Wunden des Herrn."

Im Karmel ist es Brauch, um 15 Uhr zur Erinnerung an Christi Tod die Glocken zu läuten, wobei jede Schwester dann ihr Kreuz küßt. Als Mutter Agnès nun der kranken Therese ihr Kruzifix hinhält - wie üblich die Füße zum Kuß reichend - entgegnet Therese: "Ah! Aber ich, ich küsse das Gesicht!" Ähnliche Furchtlosigkeit und Zärtlichkeit im Umgang mit dem Herrn spricht Therese bei der Betrachtung eines Bildes an. Das Bild zeigt den Herrn mit zwei kleinen Kindern, wobei das eine seine Hand küssend zu seinen Füßen sitzt, während das kleinere auf seinem Schoß Platz genommen hat: "Dieses kleine da, das Jesus auf den Schoß geklettert ist, das sein Beinchen so herzig hochzieht, sein Köpfchen hebt und Ihn ohne jede Scheu liebkost, das bin ich. Das andere Kleine gefällt mir nicht so gut. Es hat eine Haltung wie ein Großer; man hat ihm etwas gesagt ... Es weiß, daß man Jesus Ehrfurcht schuldet ..."

Ein weiteres Beispiel für den körperlichen Bezug von Thereses Gebeten ist, wie sie die Hl. Familie mit in ihr Essen einbezieht. So nimmt sie etwa Pfirsische und Pflaumen in die Hand, gestikuliert als wolle sie sie jemandem reichen und bietet so von ihrem Essen der Hl. Familie an.

Gerne betrachtet Therese ihr Spiegelbild auf dem Grund des Meßkelches. "Ich tat das so gerne in der Sakristei. Es machte mich glücklich zu denken: Meine Züge haben sich dort gespiegelt, wo das Blut Jesu geruht hat".

Besonders während ihrer Bettlägrigkeit bekommen die am Bettvorhang befestigten Heiligenbilder große Bedeutung für Therese. Sie streichelt das Bild des seligen Théophane Vénard: "Das sind keine Ehrenbezeigungen [...] Es sind ganz einfach Liebkosungen!" Noch zwei Stunden vor ihrem Tod streicht sie zärtlich über seine Reliquien.

Therese ist fest davon überzeugt, daß es nicht dem Willen Gottes (für sie und ihre Schwestern) entspricht, sich große Mortifikationen aufzuerlegen. Der Beweis ist für sie, daß sie lange ihr kleines Kreuz aus Eisen getragen hatte und davon krank geworden war.

5.8.4. Schreiben im Gebet

In ihren Selbstbiographischen Schriften will Therese "die Erbarmungen des Herrn [...] besingen". Häufig geschieht es, daß in ihren Schriften der Text einfach ins Gebet hinübergleitet. "Meine vielgeliebte Mutter, was ich Ihnen schreibe, hat keinen Faden; meine kleine Geschichte, die einem Märchen glich, hat sich unversehens in ein Gebet verwandelt."

Therese wendet sich spontan Jesus zu, und erst hinterher stellt sie erstaunt fest, was sie geschrieben hat, und greift den ursprünglichen Faden ihrer Erzählung wieder auf. Dies mag anzeigen, wie sehr ihr Denken schon Gebet ist.

MsB verfaßt Therese direkt in Anrede zu Jesus, ihrem Viel-Geliebten: "Beim Schreiben rede ich mit Jesus, das macht es mir leichter, meine Gedanken auszudrücken..."

Häufig beschreibt Therese, wie sie an die Grenzen des Sagbaren stößt: Es lassen sich keine Ausdrücke finden, die dem Verlangen ihres Herzens genügten. Sie fühlt, "daß es unmöglich ist, in menschlichen Worten Dinge wiederzugeben, die das menschliche Herz kaum zu ahnen vermag [Nachklang von 1Kor 2,9] ..." "Ich fühle mein Unvermögen, die Geheimnisse des Himmels in irdischen Worten nachzusprechen". Vollkommen hingegen wird die Verständigung im Himmel sein. Über Jesus geschieht Verständigung: "Jesus wird Sie alles fühlen lassen, was ich nicht schreiben kann"

5.9. Anrufung der Heiligen

Häufig ruft Therese auch die Heiligen an und findet zu enger Vertrautheit mit ihnen: Therese fühlt sich von den Heiligen geliebt, wie es etwa im Traum mit der hl. Mutter Anna de Lobera erfährt. Wie Gott so gibt Therese auch den Heiligen ohne Berechnung: Sie streut dem hl. Josef Blumen, nicht etwa um eine besondere Gnade zu erwirken, sondern einfach um ihm Freude zu machen. "Ich bitte oft die Heiligen, ohne daß sie mich erhören, aber je tauber sie meinen Bitten gegenüber scheinen, desto mehr liebe ich sie."

Therese schätzt nicht die Außergewöhnlichkeit des Lebens von manchen Heiligen. So begründet sie ihre Vorliebe für den Märtyrer Théophane Vénard (1829-1861), einen jungen Priester der Auslandsmissionen von Paris, der in der Festung von Hanoi enthauptet worden war: "Mir gefällt Théophane Vénard noch besser als der heilige Aloisius von Gonzaga, weil sein Leben ganz gewöhnlich war, das des Heiligen dagegen außergewöhnlich." Außerdem war Théophane Vénard im Gegensatz zum heiligen Aloisius von Gonzaga immer fröhlich.

Ihr gefällt es besser, wenn sich die Heiligen sich vor nichts fürchten. Therese "möchte Beispiele von Demut vor Augen haben". Die Heiligen machen ihr Mut und sprechen ihr von ihrer posthumen Sendung. Sie fühlt sich von ihnen beobachtet: "Sie wollen sehen ... [...] Vor allem, ob ich das Vertrauen verliere ... wie weit ich mein Vertrauen treiben werde ..."

Ihr großes Anliegen ist die Nachahmbarkeit der Heiligen. Therese schätzt auch bei Heiligen keine Ausnahmephänomene, die nicht von 'kleinen Seelen' nachgeahmt werden können. So "will [Therese] für sich nichts, was nicht auch den 'kleinen Seelen' zukommen kann" und ist bemüht einen 'kleinen', nicht 'aristokratischen' Weg zu finden, der jedem zugänglich ist. Mit ihrem Humor kämpft sie so auch gegen die Bestrebungen ihrer Schwestern, sie bereits zu Lebzeiten zu kanonisieren.

5.9.1. Maria

Therese hat eine innige Beziehung zu Maria, deren Lächeln sie als Zehnjährige geheilt hatte. Insbesondere durch die Erfahrung der Trockenheit im Gebetsleben und der Glaubensprüfung gelangt Therese zu einer realistischen, nüchternen Spiritualität, wie sie sich u.a. in ihrer Stellung zur zeitgenössischen Marienfrömmigkeit äußert. Therese wendet sich gegen alle Verzeichnung, alles Extravagante und Unwahre in der Marienverehrung und kritisiert die Übertreibungen zeitgenössischer Marienpredigten. Stattdessen sucht sie "eine einfache, herzliche Verbundenheit auf der Grundlage dessen, was die Evangelien von der Muttergottes berichten." Das irdische Leben der Muttergottes soll mehr in den Blick rücken - wie es wirklich war, in seiner Einfachheit. "Man müßte sie nachahmbar zeigen". Thereses großes Anliegen ist, Maria nicht so unnahbar darzustellen, daß man vor einer Nachahmung zurückschreckt, sondern die Menschen zur Nachahmung Mariens einzuladen. "Im Vorgriff auf das zweite Vatikanische Konzil entdeckte [Therese] die einfache Frau aus Nazareth, die Pilgerin des Glaubens und der Hoffnung, die Mutter und das Vorbild."

Sie selbst hält sich in ihrem 'marianischen Testament', dem Gedicht 'Warum ich dich liebe, Maria'  genau an die Evangelien. So besingt sie Marias Jungfräulichkeit, Gottes- und Nächstenliebe, Einfachheit, kontemplatives Schweigen, Gehorsam, Demut, Armut, Leid....  Der nüchterne, einfühlende Blick auf das Leben der Muttergottes läßt sie auch erkennen, daß Jesus in der Geschichte von Maria und Martha keineswegs Marthas Arbeit, sondern nur ihre Unruhe tadelt. Denn: "Diesen Arbeiten hat sich seine göttliche Mutter ihr ganzes Leben lang demütig unterzogen, da sie die Mahlzeiten der Hl. Familie zubereiten mußte".

Insbesondere Thereses letzte Gespräche in ihrer Krankheit zeugen von ihrer großen Vertrautheit mit Maria und dem Flehen und Bitten zu ihr. Denn es ist für Therese nicht dasselbe, ob man Gott oder Maria um etwas bittet: "Ich habe die Heilige Jungfrau gebeten. Den lieben Gott habe ich nicht gebeten, denn ich möchte Ihn machen lassen, was Er will. Die Heilige Jungfrau bitten ist nicht dasselbe. Sie weiß genau, was sie mit meinen kleinen Wünschen machen soll, ob sie sie weitersagen soll oder nicht ... mit einem Wort, es ist ihre Sache, es so einzurichten, daß der liebe Gott sich nicht gezwungen fühlt, mich zu erhören, sondern daß Er frei bleibt, in allem seinen Willen zu tun." Therese möchte Gott zu nichts zwingen, ja nicht einmal ihn in Verlegenheit bringen, denn allein sein Wille soll geschehen. Als Mutter weiß Maria, welche der Wünsche sie an Gott / ihren Sohn weiterleiten soll und welche nicht. "Wenn man die Heilige Jungfrau gebeten hat, und sie erhört einen nicht, so ist das ein Zeichen, daß sie nicht will. Dann muß man sie machen lassen, wie sie will, und darf sich nicht abquälen."

5.10. Nichterhörung

Therese ist überzeugt, daß Gott selbst ihr als Wunsch eingibt, was er ihr schenken will: "Der liebe Gott hat mich immer das wünschen lassen, was Er mir geben wollte."

Auch in dieser Phase finden sich  "Zeugnisse für diese zwei-eine Haltung des Bittgebetes". Um Céline nicht aufzuwecken, bittet Therese Maria, daß sie nachts nicht husten muß. "Aber ich fügte hinzu: wenn Du es nicht tust, werde ich Dich noch mehr lieben." Ähnlich äußert Therese: "Ich bitte oft die Heiligen, ohne daß sie mich erhören, aber je tauber sie meinen Bitten gegenüber scheinen, desto mehr liebe ich sie." Als sie trotz inbrünstigen Betens nicht erhört worden ist, sagt sie: "... Trotz allem, was ich im ersten Augenblick empfand, habe ich dem lieben Gott wieder gesagt, daß ich ihn noch mehr liebe und alle Heiligen auch."

5.11. Abschiedsgebet Jesu

"Mit bemerkenswerter theologischer Kühnheit" wendet Therese wenige Monate vor ihrem Tod Jesu Abschiedsgebet (Joh 17) auf sich selbst an, ihre Identifizierung mit Christus wird deutlich. "Ja Herr, das ist es, was ich dir nachsprechen möchte, bevor ich in deine Arme entfliege. Es ist vielleicht Vermessenheit? Doch nein, seit langem hast du mir erlaubt, dir gegenüber kühn zu sein. Wie der Vater des verlorenen Sohnes zu seinem Ältesten, so sprach du zu mir: 'ALLES, was mein ist, ist dein [Lk 19,31].' Deine Worte, o Jesus, sind also mein, und ich kann mich ihrer bedienen, um auf die Seelen, welche eins mit mir, die Gunsterweise des Himmlischen Vaters herabzuziehen."

Wenn sie sagt "wo ich sein werde, möchten auch jene sein, die du mir gegeben hast", ersehnt sie im Himmel mit ihnen vereint zu sein.

"O mein Jesus, vielleicht ist es eine Täuschung, aber mir scheint, es sei nicht möglich, daß du eine Seele mit mehr Liebe erfüllst, als du die meine damit erfüllt hast; darum wage ich dich zu bitten, jene, die du mir gegeben hast, so zu lieben, wie du mich selber geliebt hast [Joh 17,23]."

Die "dem Evangelium entliehenen Worte: "Ich habe ihnen die Worte mitgeteilt, die du mir mitgeteilt hast [Joh 17,8]" wendet Therese nicht auf die Missionare, sondern auf die Novizinnen an. "Hingegen habe ich an [...] meine Brüder, gedacht, als ich diese Worte Jesu schrieb und die anschließenden - ' Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen... ich bitte dich auch noch für jene, die auf das hin, was sie diese sagen hören, an dich glauben werden [Joh 17,15-20].' Wie könnte ich es in der Tat unterlassen, für die Seelen zu beten, die sie in ihren fernen Missionsgebieten durch das Leiden und die Predigt retten werden?"

5.12. Vereinfachung des Fürbittgebets

Das Fürbittgebet, so ganz wesentlich für ihre Berufung als Karmelitin, nimmt mehr und mehr Raum ein in dem Maße, wo sich ihr Leben dem Ende nähert. Lange Zeit hielt sie Fürbitte für die Sünder, indem sie sie aufzählte (Pranzini, Hyacinthe Loyson, Léo Taxil), aber in dem Maße, in dem sich ihre Berufung erweitert, und aufgrund ihrer Verantwortung für die Novizinnen und die beiden Missionare, umfaßt ihr Gebet die ganze Erde. "Ich könnte nicht sagen: Mein Gott, das ist für die Kirche, mein Gott, das ist für Frankreich ... usw. ... Der liebe Gott weiß genau, was Er damit machen soll; ich habe Ihm alles gegeben, um Ihm Freude zu machen. Und übrigens würde es mich zu sehr anstrengen, Ihm zu sagen: Gib das dem Peter, gib das dem Paul. Das tue ich nur schnell, wenn eine Schwester mich darum bittet, und nachher denk' ich nicht mehr daran. Wenn ich für meine Missionsbrüder bete, opfere ich nicht meine Leiden auf. Ich sage ganz einfach: Mein Gott, gib ihnen alles, was ich mir für mich selber wünsche."

Thereses Fürbittgebet vereinfacht sich immer mehr. In einem Vers aus dem Hohenlied findet Therese "ein einfaches Mittel, meine Sendung zu erfüllen": "'ZIEHE MICH AN DICH, WIR  WERDEN EILEN nach dem Duft deiner Wohlgerüche [Hld 1,3].''O Jesus, es ist also nicht einmal nötig zu sagen: 'Indem du mich an dich ziehst, ziehe auch die Seelen, die ich lieb, an dich!' "

Thereses Ausgangspunkt ist die Vereinigung mit Jesus: "Das ist mein Gebet, ich bitte Jesus, mich in die Flammen seiner Liebe hineinzuziehen, mich so innig mit Ihm zu vereinen, daß Er in mir lebe und wirke." Angezogen von der Liebe Christi will sie dann alle mit sich ziehen. Thereses Fürbittgebet vereinfacht sich immer mehr, es wird "zum einfachen Sehnsuchtsruf der Braut des Hohenliedes: 'Zieh mich an dich!'" Denn sie erkennt, daß, wenn sie selbst mit Jesus vereint ist, sie als natürliche Folge auch alle, die sie liebt, hinter sich her zu Gott zieht. Therese vergleicht dies mit einem Sturzbach, der auf dem Weg zum Ozean der göttlichen Liebe alles mit sich schwemmt, was ihm begegnet.

"Was bedeutet denn die Bitte, Angezogen zu werden anderes, als sich aufs innigste mit dem Gegenstand vereinen zu wollen, der das Herz in Bann schlägt?" Unter dem "Duft der Wohlgerüche des Viel-Geliebten" versteht Therese die Spuren, die Jesus im Evangelium hinterlassen hat.

5.13. Wirkmacht des Gebetes

Therese preist die Wirkmacht des Gebetes und vergleicht "es mit einer Königin [...], die allzeit freien Zutritt hat beim König und alles erlangen kann, worum sie bittet." Die Kühnheit und Einflußmöglichkeit sowie die Vertrautheit des Bittenden mit dem göttlichen König kommt hier zum Ausdruck. Gebet und Opfer machen Thereses Stärke aus, sind ihre "unbesieglichen Waffen". Ein wunderschöner Lobpreis der Macht des Gebetes steht am Ende der autobiographischen Schriften. Dies mag zeigen, wie sehr Therese die Botschaft am Herzen liegt, daß das Gebet alles vermag und daß das Gebet der Weg ist, die Welt zu verwandeln: "Ein Gelehrter hat gesagt: 'Gebt mir einen Hebel, einen Stützpunkt, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.' Was Archimedes nicht erreichen konnte [...], das erlangten die Heiligen in seiner ganzen Fülle. Der Allmächtige gab ihnen als Stützpunkt: GOTT SELBST und GOTT ALLEIN; als Hebel: Das Gebet, das mit einem Liebesfeuer entflammt, und auf diese Art haben sie die Welt aus den Angeln gehoben; und auf diese Art heben die heute streitenden Heiligen sie aus den Angeln, und bis zum Ende der Welt werden es die künftigen Heiligen ebenfalls tun."

 zu Kapitel 6

[Home] [Einführung] [Jugendarbeit] [Ökumene] [Mystik] [Mission] [Gemeinde]